Lesung im Café Quitte - ein Deutscher und ein Syrer schildern ihr Zusammenleben

| BENN

Die Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete am Quittenweg soll nicht nur ein Ort sein, in dem man wohnt, sondern auch darüber hinaus etwas miteinander erlebt und gestaltet. Dazu zählt, dass mit der Eröffnung des Café Quitte im Februar dieses Jahr ein Freizeitangebot für alle dort Lebenden, aber auch für eine interessierte Nachbarschaft geschaffen wurde. Nun fand in dem Treffpunkt erstmals eine Buchlesung statt.

Besser als mit einer solchen Lesung wie am 21. Juni kann gute Nachbarschaft zwischen Geflüchteten und Einheimischen kaum erfahren werden, wenn zwei Gäste sich begrüßen lassen, die exemplarisch für die jeweilige Gruppe stehen und das auch literarisch im Buch "Unter einem Dach - Ein Deutscher und ein Syrer erzählen" verarbeitet haben.


Zu der Lesung ins Café Quitte kam zum einen Amir Baitar, der selber 2015 nach Deutschland geflüchtet war. 1991 in Syrien geboren, in einem Dorf am Euphrat aufgewachsen, studierte Amir Baitar in der Stadt Deir-el-Zor Mathematik und Informatik, bis der Krieg eine akademische Ausbildung unmöglich machte. Mitten im Ort verlief die Grenze zwischen den von syrischen Regierungstruppen und dem vom "Islamischen Staat" kontrollierten Territorien. Er musste über die Grenze hinweg tagtäglich die Stadtteile zwischen Elternhaus und Hochschule wechseln. Immer wieder wurde Amir Baitar am Grenzposten verdächtigt, ein Spion der jeweils anderen Seite zu sein und hinterfragt, warum er nicht den jeweiligen bewaffneten Einheiten angehöre. Er, der ein ganz normales Leben führen wollte, entschloss sich daher über die Türkei und die Balkanroute nach Deutschland zu flüchten.
Nach einigen Stationen in Notaufnahmeheimen, zuletzt in Sachsen, ist Amir Baitar gewillt in eine deutsche Großstadt zu kommen, wo er sein Studium fortsetzen kann. Da es dort keine Aufnahmekapazitäten für ihn gibt, findet er einen Deutschen aus Hamburg, der ihn temporär aufnimmt, um erstmal Fuß zu fassen.

Dieser Deutsche ist der andere Part bei dieser Lesung. Es handelt sich um Henning Sußebach, Jahrgang 1972, einem Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", der Amir Baitar für elf Monate in seinem Wohnhaus im freigeräumten Arbeitszimmer unterbringt. Für das Ehepaar Sußebach mit ihren zwei Kindern ist das Zusammenleben eine Herausforderung. Sie wissen, dass der Student Amir Baitar gläubiger Muslim ist und andere Wertvorstellungen mit sich bringt. Es entsteht aber eine Freundschaft und aus dieser heraus letztlich ein gemeinsames Buch. In diesem erzählen sie von Ängsten, Sprachbarrieren und Missverständnissen, vor allem aber über die Vertrautheit, die entsteht, wenn sich Menschen aus zwei verschiedenen Kulturen aufeinander einlassen. Es beschreibt die Diskussion zweier Personen um Themen wie Familienbild, Religion, Werte und Tradition, wie sie in Deutschland und Syrien unterschiedlich gelebt werden.

Die Familie Sußebach staunt so zu Anfang nicht schlecht, als ihr neuer Gast das Haus mit seiner Mekka-App ausmisst. Oder im Gäste-WC rituelle Waschungen vornimmt, so etwa vor den fünf täglichen Gebeten oder wenn er eine Frau berührte. Man überlegte in einem bisher religionsentleerten Alltag der Familie, ob als weiterer Untermieter still und unsichtbar auch Allah eingezogen sei. Der Gast will auch zunächst nicht verstehen, dass in seiner neuen Familie die Frau mit dem Auto zur Arbeit fährt und der Mann das Fahrrad nimmt. Er grübelt darüber, warum der Deutsche sich wenig um sein Äußeres schert, den ganzen Tag die gleiche Kleidung trägt, selbst zu feierlichen Anlässen, anstatt täglich wechselnde Abschnitte von Arbeit über Freizeit bis Feierliches durch ein jeweils anderes Outfit zu unterstreichen, sprich etwas hinter sich zu lassen.
Nach Silvester zermarterte sich Amir Baitar einmal den Kopf, weil er seinem Tischnachbarn Wein gereicht hat – und fragt sich intensiv, ob er damit Beihilfe zum Trinken, also einen Gottesgesetzesbruch, geleistet habe. Interessant findet er, dass immer wenn Besuch ins Haus kommt, Spaghetti und damit ein einfaches Mahl gereicht wird, während er es von zuhause kennt, wie seine Mutter ein umfangreiches Menü mit mehreren Gängen zaubert. Zugleich registrierte er, dass bei Deutschen wie Sußebach die Küche sehr international ausgelegt ist, es gibt aus allen Teilen der Welt etwas, nur wenig an einheimischen Gerichten.

Amir Baitar beschreibt seine Schwierigkeiten mit dem Erlernen der deutschen Sprache. Schon allein die oft keiner Logik folgenden Artikel "der, die das", hinzukommend deren Veränderung etwa durch Dativ oder Genitiv, bereiten Kopfzerbrechen, wo im Arabischen vor allem immer nur ein "al" steht. Auch das zu jedem Wort zusätzlich noch mal eine weibliche Form genannt wird, das Gendern, findet er amüsant. Als Schmankerl erzählt er, wie er schnell begriffen habe, dass viele deutsche Hauptwörter aus einzelnen Worten zusammengesetzt sind und diese Bestandteile beim Vokabellernen mit Trennstrichen markiert habe. Als er das Wort "Arzt-helfer-innen" hatte, fragte er einmal, ob es auch "Arzt-helfer-außen" gebe.

 

Mehrere Kapitel des Buches wurden im Rahmen der Veranstaltung in Deutsch wie Arabisch gelesen. Erzählt wurde auch wie es nach den Erlebnissen schließlich zu diesem im Herbst 2016 erschienenden Buch "Unter einem Dach" kam, welches erschienen bei Rowohlt für 19,95 Euro im Buchhandel erhältlich ist und für Verständnis untereinander werben soll.
Anschließend gab es noch eine Diskussionsrunde, in denen die beiden Autoren von Geflüchteten wie Einheimischen befragt wurden. Amir Baitar machte deutlich, dass er nach Abschluss seines Studiums gerne in Deutschland bleiben wolle, auch wenn sich seine gesamte Familie entschlossen habe, in Syrien zu bleiben. Er beschreibt auch, wie er sich seit seinem Aufenthalt in Deutschland durchaus verändert habe, so sei er zwar weiter Muslim, nehme aber, nachdem er gelernt habe, einiges auch zu hinterfragen, das Religiöse nicht mehr so streng, wie er es von zuhause kennengelernt habe.

Amir Baitar sieht es als einen Glücksfall, dass er die Chance hatte, fast ein Jahr bei einer deutschen Familie zu verbringen, anstatt in einem Wohnheim. Ein Schlüssel zur Integration sei es gegenseitig mehr voneinander zu erfahren. Daher fand er auch schnell die Idee gut, das ganze recht nah nach den Ereignissen vom Herbst 2015 in einem Buch zu verarbeiten, das ein Dialog voll unbequemer Wahrheiten, unerwarteter Komik und ermutigender Gedanken ist. Am Ende stand eine recht gelungene Lesung mit vielen Momenten, die zum Schmunzeln und zum Nachdenken anregten.

Foto: Joachim Schmidt
Foto: Joachim Schmidt
Foto: Joachim Schmidt
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